Prof. Dr. Wolfgang Wahlster: Bestimmt die Künstliche Intelligenz welche Nachrichten wir lesen?

24.10.2016, ein Beitrag von

Die „Saarbrücker Medienimpulse“ sprachen mit dem Direktor und Vorsitzenden der Geschäftsführung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) Prof. Wolfgang Wahlster (Foto: Jim Rakete) über die Bedeutung der Künstlichen Intelligenz für die Medien und die Sicherung der Meinungsvielfalt.

Saarbrücker Medienimpulse: Ob soziale Netzwerke, Suchmaschinen oder News-Aggregatoren, die Online-Plattformen bestimmen zunehmend, welche Nachrichten von Menschen wahrgenommen werden. Welche Rolle spielen bei der Nachrichtenauswahl selbstlernende Algorithmen und andere Technologien der Künstlichen Intelligenz?

Prof. Wahlster: In den letzten Jahren haben wir mit automatischen Verfahren der Informationsextraktion große Fortschritte erzielt: Wir können heute große Mengen von Texten, Bildern und Videos mit Methoden der Künstlichen Intelligenz durch Softwaresysteme inhaltlich analysieren lassen. Die erste Welle der Digitalisierung der Medien hat dazu geführt, dass alle Daten digital erfasst, gespeichert, übertragen und verarbeitet werden. Nun hat die Künstliche Intelligenz (KI) eine viel größere zweite Welle der Digitalisierung ausgelöst, in denen die Medieninhalte und deren Nutzer im Mittelpunkt stehen. Medien sind nicht nur maschinenlesbar, sondern durch KI erstmals auch maschinenverstehbar. Kognitive Systeme extrahieren die Semantik aus digitalen Medien und erlernen die individuellen inhaltlichen Präferenzen und situationsbezogenen Bedürfnisse der Nutzer. Damit können die jeweils relevanten Medieninhalte aggregiert und zur richtigen Zeit am richtigen Ort als personalisierte Präsentation automatisiert bereitgestellt werden.

Saarbrücker Medienimpulse: Klassischerweise war diese Selektion die Aufgabe von Journalisten. Die redaktionelle Verantwortung kann bei klassischen Medien nachvollzogen werden, aber wer bestimmt denn den Algorithmus?

Prof. Wahlster: Letztlich muss jeder Anbieter von Medien die Verantwortung dafür tragen, wie Information ausgewählt, komponiert und präsentiert wird, auch wenn das von algorithmischen Verfahren erledigt wird. Eine redaktionelle Verantwortung kann ein System mit Künstlicher Intelligenz nicht übernehmen. Ideal ist sicher eine Erklärungskomponente, die alle Entscheidungen des automatisierten Systems auf eine für den menschlichen Nutzer verständliche Weise begründet – das ist aber bislang gerade bei lernenden Softwaresystemen kaum realisiert und bedarf noch intensiver Forschungen.

Saarbrücker Medienimpulse: Wenn auch unser Verhalten den Algorithmus bestimmt und dieser Tatsache sind sich die Menschen zunehmen bewusst, welche Auswirkungen hat dies auf das Verhalten der Menschen? Wie vorsichtig muss man sein, bei den Daten, die man den Algorithmen zur Verfügung stellt?

Prof. Wahlster: Das ist eine sehr wichtige Fragestellung, die noch weiter untersucht werden muss. Die Ergebnisqualität von Lernalgorithmen hängt stark vom Umfang und der Güte der verwendeten Trainingsdaten ab. Man kann die Ergebnisse natürlich dadurch manipulieren, dass man tendenziöse Trainingsdaten auswählt, die z.B. eine bestimmte politische Einstellung bevorzugen. Dann erhalten wir natürlich bei der Auswahl von Inhalten ein einseitiges System.

Hier ist sicherlich zu fordern, dass die Trainingsdaten für die jeweiligen Lernverfahren offen verfügbar sind, so dass man die algorithmischen Ergebnisse kritisch hinterfragen kann.

Saarbrücker Medienimpulse: Um den Lernalgorithmus zu füttern, müssen viele Daten gesammelt werden. Je mehr Daten der Algorithmus auswerten kann, desto besser werden die Ergebnisse, das proklamieren zumindest die Anbieter der großen Dienste. Sollte es nicht auch Grenzen in der Datenerfassung und -auswertung geben, wie sehen Sie das?

Prof. Wahlster: Selbstverständlich müssen die informationelle Selbstbestimmung und die Datensouveränität gewährleistet sein. Das DFKI ist auch am Cybersicherheitszentrum CISPA beteiligt, wo wir in Saarbrücken neue Technologien zur Sicherheit, Zuverlässigkeit und dem Daten- und Privatsphärenschutz entwickeln. Es muss den Nutzern aber klar sein, dass sie keine personalisierten Leistungen von IT-Systemen erwarten können, wenn sie den automatischen Lernsystemen keinerlei Daten über sich bereitstellen wollen. Der Nutzer „zahlt“ letztlich für eine personalisierte IT-basierte Dienstleistung in vielen heutigen Anwendungen mit seinen Daten. Das ist aber bei Payback-Karten oder anderen Kundenbindungsprogrammen die gleiche Logik. Wichtig ist, dass ein Opt-Out auf Nutzerseite transparent und einfach jederzeit möglich ist. Das bietet ja beispielsweise Google Analytics schon seit längerer Zeit an.

Saarbrücker Medienimpulse: Das DFKI ist die weltgrößte Forschungseinrichtung für Künstliche Intelligenz mit Laboren in Saarbrücken, Kaiserslautern, Bremen und Berlin. Was macht das besondere des Standortes Saarland aus?

Prof. Wahlster: Im Saarland ist das DFKI in ein weltweit anerkanntes Ökosystem von Spitzenforschungsinstituten in der Informatik und innovativen Start-ups eingebettet. Zudem haben die beiden größten Softwarefirmen Deutschlands, SAP und die Software AG, hier wichtige Entwicklungszentren. Im Saarland haben wir als Informatik-Land die größte Dichte an Informatikern. Da das Saarland auch ein Produktionsland ist, können die Trendthemen Big Data, Industrie 4.0 und Smart Energy Grid in dieser Modellregion sehr kompetent erforscht werden.

Saarbrücker Medienimpulse: Am 17. November findet in Saarbrücken der IT-Gipfel statt. Im Bereich der Forschung ist das Saarland sicherlich das Zentrum der europäischen IT-Forschung, aber das Zentrum der Anwendung der Künstlichen Intelligenz sitzt mit Facebook, Apple, und Google im Silicon Valley. Hat Europa den Anschluss verpasst und was erwarten Sie sich vom IT-Gipfel?

Prof. Wahlster: Nein, die von Ihnen genannten Unternehmen wenden Künstliche Intelligenz schwerpunktmäßig im Bereich der sozialen Netze, der Werbung und der personalisierten Information für den Endkunden an, also im Internet der Dienste. Die deutsche Industrie ist dagegen sehr stark im Bereich des Internets der Dinge, also Künstlicher Intelligenz für physische Produkte, die in Autos, Mähdreschern, Haushaltgeräten und Fertigungsmaschinen eingebettet ist. Industrie 4.0 wurde von uns in Deutschland erfunden und die erste Smart Factory haben wir am DFKI realisiert. Künstliche Intelligenz ist ein wesentlicher Beschleuniger für die vierte industrielle Revolution. Ich hoffe, dass durch den IT-Gipfel ein Ruck ausgelöst wird, der zu einem weiten Sprung nach vorne in der digitalen Agenda führt.

Zur Person:
Wolfgang Wahlster ist Professor für Informatik an der Universität des Saarlandes und leitet seit 1988 als Direktor und Vorsitzender der Geschäftsführung das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) in Saarbrücken, Kaiserslautern, Bremen und Berlin als die weltweit größte Forschungseinrichtung auf diesem Gebiet mit über 700 Wissenschaftlern. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind multimodale Sprachdialogsysteme, benutzeradaptive Assistenzsysteme für das Internet der Dienste und der Dinge sowie cyber-physische Produktionssysteme auf der Basis digitaler Produktgedächtnisse. Für seine Forschungen wurde er mit dem deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten und Ehrendoktorwürden der Universitäten Darmstadt, Linkoeping und Maastricht ausgezeichnet. Er ist Mitglied der Nobelpreis-Akademie in Stockholm sowie der deutschen Nationalakademie Leopoldina. Als Mitglied von Beratungsgremien der Bundesregierung wie den Partnern für Innovation und der Forschungsunion hat er Zukunftsprojekte wie Industrie 4.0 und Smart Service Welt mitinitiiert. Mit 68 erfolgreichen Firmenneugründungen leitet er eines der gründungsaktivsten Forschungszentren und ist in zahlreichen industriellen Aufsichtsräten und Beiräten tätig.

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