Prof. Dr. Dieter Dörr: Algorithmen und Interessen – Wer bestimmt unsere Wahrnehmung?

Professor Dr. Dieter Dörr, Gründungsdirektor des Mainzer Medieninstituts

28.10.2016, ein Beitrag von

Die Medienangebote und ihre Verbreitung verändern sich in den letzten Jahren rasant, um nicht zu sagen revolutionär. Dieser Prozess ist in erster Linie technikgetrieben. Entscheidend dafür ist die Digitalisierung der Kommunikationsinfrastrukturen, die in ihrer Bedeutung von Norbert Schneider, dem früheren Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen, bereits 2006 plastisch mit der Erfindung eines neuen Alphabets gleichgesetzt wurde.[1] Mit der Digitalisierung ist es möglich geworden, jedwede Kommunikationsinhalte auf verschiedenen Übertragungswegen zu verbreiten und für die Empfänger auf beliebigen Endgeräten verfügbar zu machen. Dies wird zutreffend als technische Konvergenz bezeichnet. Die fortschreitende Digitalisierung, die Leistungssteigerung der elektronischen Informations- und Kommunikationssysteme und ihre Privatisierung ergreifen immer mehr die Medienmärkte, also den Bereich der Inhalte und ihrer Verbreitung. Die Trennlinien zwischen dem Inhaltebereich (Medien) und den Übertragungssystemen (Kommunikation) werden unschärfer. Bisher getrennte Formen der Produktion, Darstellung, Speicherung, Verbreitung und Suche von Inhalten verschmelzen auf digitalen Plattformen weitgehend miteinander. Traditionelle Mediengattungen erleben ebenso einen Bedeutungswandel wie traditionelle Kategorien von Verbreitungssystemen. Diese Entwicklungen werden vielfach als inhaltliche Konvergenz bezeichnet. So treten etwa neben das klassische Fernsehen in großer Zahl weitere mediale Angebote, deren Bedeutung sich dem Fernsehen mehr und mehr annähern. Zudem sind die Unterschiede zwischen dem Fernsehen als einer Form des einfachgesetzlichen Rundfunks und Online-Angeboten bei weitem nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Bei vielen Abrufangeboten besteht, abgesehen von der Linearität, inhaltlich überhaupt kein Unterschied mehr.

Erleichtert die Digitalisierung einerseits die massenhafte Verbreitung meinungsrelevanter Inhalte, ist dieser Zuwachs gleichbedeutend mit einem Verlust an Übersichtlichkeit. In dieser Situation gewinnen sog. Informationsvermittler oder „Intermediäre“ zunehmend an Bedeutung. Sie bringen – jedenfalls auf den ersten Blick – Ordnung in das digitale Chaos und machen in der digitalen Welt Inhalte überhaupt erst zugänglich und damit wahrnehmbar. Wenngleich der Begriff der „Inhaltevermittler“ dabei nur stellvertretend für eine ganze Reihe verschiedener Dienste stehen kann, kommt den sog. Suchmaschinen hier eine herausgehobene Bedeutung zu. Wenn auch nicht technisch, so ist das tatsächliche Schicksal einzelner Inhalte im Netz für die Mehrheit der Internetnutzer an ihre Auffindbarkeit geknüpft. Was der Nutzer nicht findet, existiert nicht. Schon dadurch sind – wie das Beispiel Google zeigt, mächtige Global Player entstanden. Diese Internet-Giganten betätigen sich aber nicht nur als Informationsintermediäre, indem sie etwa eine horizontale Suchmaschine betreiben, über die in Deutschland weit über 90 Prozent der Suchanfragen laufen. Ihre Rolle geht bei genauerer Betrachtung inzwischen weit über die eines bloßen Informationsvermittlers hinaus. Bildlich gesprochen lässt sich dies wie folgt beschreiben: Wäre das Internet eine Bibliothek, so wären die Anbieter horizontaler Suchmaschinen ihre Kataloge, ihre Bibliothekare und seit geraumer Zeit sogar selbst Autoren und Verleger. Sie entwickelten sich nämlich von reinen Inhaltevermittlern mehr und mehr zu Anbietern eigener Inhalte. Ihre Tätigkeit ist längst nicht nur rein technischer, automatischer und passiver Art. Sie umfasst eine Vielzahl unabhängig von der eigentlichen Suchmaschine geschaffener Dienste. Diese reichen beispielsweise im Falle von „Google“ über Karten- und Navigationsdienste, wie „Google Maps“ und „Streetview“, bis hin zu Shopping-Portalen, wie „Google Shopping“ oder die Vermittlung von Flugreisen. Im Bereich der sog. User-Generated-Videos dominiert „YouTube“, eine „Google“-Tochter, seit Jahren das Geschehen. Über diese vertikale Ausweitung des Geschäftsmodells werden diese Internet-Giganten mehr und mehr zu wirtschaftlichen aber auch journalistischen Konkurrenten klassischer Inhalteanbieter und nehmen als solche am Wettbewerb teil. Die Informationsvermittler bedienen sich bei ihren Steuerungs- und Auswahlprozessen Computerprogrammen, also Algorithmen. Daher stellt sich die Frage, ob und wie das Medienrecht darauf reagieren kann und soll.

Die besondere Rolle der Informationsvermittler

Dazu ist es zunächst notwendig, diejenigen Einflusspotentiale in den Blick zu nehmen, die von Informationsvermittlern in ihrer ursprünglichen Rolle in der digitalen Welt ausgehen. Ihr Einflusspotential entspricht nicht demjenigen klassischer Rundfunkangebote, weil nicht nur der Inhalt selbst, sondern darüber hinaus vor allem die Kontrolle des Zugangs und der Auffindbarkeit von meinungsrelevanten Inhalten im Vordergrund steht. Den Informationsvermittlern und insbesondere den Suchmaschinenanbietern kommt eine strukturell anders zu erfassende Bedeutung zu, die es erforderlich macht, eine eigenständige Regelung zu treffen.

In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, bereits das den Suchmaschinen zugrundeliegende Konzept zur Ermittlung der Suchergebnisse und ihrer Anordnung kritisch zu hinterfragen. Anders als es beispielsweise § 25 RStV für den Rundfunk vorgibt, ist bei Suchmaschinen gerade nicht die „inhaltliche Vielfalt der Meinungen“ das ausschlaggebende Kriterium, sondern einzig die in Algorithmen festgeschriebene und nach abstrakten Kriterien bestimmte „Relevanz“ eines Angebots. Ausgangspunkt des insgesamt mehr als 200 Kriterien umfassenden Vorgangs der Indexierung und Anordnung von Webinhalten ist im Falle von „Google“ der sog. „Page Rank“-Algorithmus. Danach beurteilt sich die Bedeutung einer Webseite vereinfacht ausgedrückt vor allem danach, wie viele und welche anderen Webseiten auf das fragliche Angebot verlinken. Wichtigkeit und Relevanz steigen, je häufiger auf eine Webseite verlinkt wird und je höher wiederum die sog. Reputation der verlinkenden Seiten ist. Im Grundansatz bestimmt sich also die Relevanz eines Angebots primär nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern vor allem danach, ob eine Webseite von anderen Webseiten-Betreibern für so wichtig gehalten wird, dass diese entsprechende Links setzen.[2]

Je nach Ausgestaltung der zugrundeliegenden Algorithmen werden – jedenfalls ohne entsprechende „Nachsteuerung“ – vor allem ohnehin populäre und vielfach verlinkte Treffer bevorzugt und weiter vorne gelistet. Neue, noch unbekannte Angebote werden demgegenüber nicht oder jedenfalls kaum wahrgenommen.[3] Ein solches System perpetuiert und verstärkt geradezu zwingend den bestehenden Zustand.

Neben dem „Page-Rank“-Algorithmus bestimmt sich die Anordnung der Suchergebnisse nach einer Vielzahl weiterer, unterschiedlich gewichteter Merkmale sog. „Signale“. So hat „Google“ im August 2014 beispielsweise angekündigt, die Verschlüsselung von Webseiten in den Suchergebnissen zukünftig als ein solches Signal zu berücksichtigen und entsprechend im Ranking zu bevorzugen. Mag man das Anliegen „Googles“ in dieser konkreten Frage auch begrüßen, zeigt dies in aller Deutlichkeit, dass die Auswahl- und Bewertungskriterien zu weiten Teilen vom Wohlwollen eines Quasimonopolisten abhängen, fernab jeder demokratischen Kontrolle. Unabhängig vom tatsächlichen Einfluss dieses einzelnen, konkreten Kriteriums auf das endgültige Ranking, belegt dieser Vorgang, wie willkürlich die Parameter bestimmt werden können, nach denen „Google“ Netzinhalten „Relevanz“ beimisst. Das Beispiel beweist überdies, dass eben nicht allein ein vermeintlich basisdemokratisches Verständnis des Internets das Ranking bestimmt. Im Bewusstsein seiner Machtposition – gerade auch gegenüber Inhalteanbietern – strebt „Google“ vielmehr auch danach, das Internet aktiv mitzugestalten.[4] In der entsprechenden Pressemitteilung heißt es daher sogar ausdrücklich:

“For now it’s only a very lightweight signal (…). But over time, we may decide to strengthen it, because we’d like to encourage all website owners to switch from HTTP to HTTPS to keep everyone safe on the web.”[5]

Folgerichtig muss bereits der Suchalgorithmus selbst als beeinflussender Faktor der Suche begriffen werden. Ein Verständnis der Algorithmen als „neutralem“ Ausgangszustand, der anschließend gegebenenfalls manipuliert werden kann, wird dem Problem in keiner Weise gerecht. Ein derartiges Verständnis verkennt, dass bereits dem Algorithmus selbst Wertungsentscheidungen zugrunde liegen, die sich meinungsrelevant auswirken. Dieser Aspekt findet in der gegenwärtigen Debatte bislang aber nur unzureichend Beachtung.

Probleme, die bereits in der grundsätzlichen Funktionsweise der Suchalgorithmen angelegt sind, werden durch die Personalisierung der Suche zusätzlich verstärkt.[6] Ähnlich wie bereits bei der grundsätzlichen Funktionsweise festgestellt, besteht vor dem Hintergrund des Nutzerverhaltens auch im Bereich der personalisierten Suche die Gefahr der Meinungsmanipulation, unabhängig davon, ob dies von den Suchmaschinenbetreibern gewollt ist. Die in einem demokratischen Prozess notwendig kritische Auseinandersetzung mit divergierenden Meinungen wird so erschwert. Im schlimmsten Fall ist ein Nutzer schlicht nicht mehr in der Lage, über Informationsvermittler divergierende Meinungen und Auffassungen wahrzunehmen, weil ihm diese nicht mehr oder nicht prominent genug angezeigt werden. Die Suchmaschine misst derartig abweichenden Suchergebnissen schlicht keine ausreichende Relevanz zu.

Es ist daher notwendig, dass diese Form der Suche zumindest nicht unerkannt im Hintergrund abläuft, sondern aktiv in den Fokus der Aufmerksamkeit der Nutzer gerückt wird. Nur über eine derartige Stärkung der Medienkompetenz kann der beschriebenen Blasenbildung entgegengewirkt werden.

Ein Phänomen, welches eng mit dem der Personalisierung verknüpft ist und welches mittlerweile auch die deutschen[7] und europäische Gerichte[8] beschäftigt hat, sind Suchvorschläge bzw. das sog. Auto-Complete.[9] Auch hierbei werden dem Nutzer Vorschläge unterbreitet, die auf vergangenen Suchanfragen basieren. Im Falle von Auto-Complete geschieht dies sogar noch während der Eingabe einer Suchanfrage. Problematisch erscheint auch hier, dass die Suchvorschläge hauptsächlich auf dem bisherigen Verhalten der Nutzer beruhen.

Zudem muss dabei ein Umstand in den Blick genommen werden, der empirisch als sog. „Lock-In-Effekt“ nachgewiesen werden kann.[10] Dieser Effekt bewirkt, dass, obwohl theoretisch Ausweichmöglichkeiten bestehen mögen, Wechselbewegungen bei der Suchmaschinennutzung lediglich in äußerst geringem Umfang zu beobachten sind. Suchmaschinen sind sog. „Erfahrungs- und Vertrauensgüter“. Aufgrund der zwischen Nutzer und Suchmaschine hier besonders ausgeprägten Informationsasymmetrie entsteht mit zunehmender Dauer der angesprochene „Lock-In-Effekt“.

Überdies sind die dargestellten Probleme keineswegs singulär diejenigen eines einzelnen Suchmaschinenanbieters, sondern wurzeln vielmehr in der grundsätzlichen Funktionsweise von Suchmaschinen. Bereits dies muss daher dem immer wieder vorgetragenen Argument, es obliege der freien Entscheidung des Nutzers, ob er sich einem bestimmten Suchmaschinenanbieter unterwirft oder zu einem Konkurrenzprodukt wechselt, entgegengehalten werden.

Daher gilt es, bereits auf europäischer Ebene die Anbieter einer Suchmaschine zu verpflichten, die Auswahl und Listung der Angebote diskriminierungsfrei vorzunehmen. Dies kann etwa im Rahmen einer geänderten AVMD-Richtlinie geschehen.

Die nationalen medienrechtlichen Regelungen sollten an eine Offenlegung zumindest von Teilen des Suchalgorithmus, beispielsweise im Rahmen eines „In-camera“-Verfahrens, denken. Eine solche Offenlegungspflicht sollte gleichwohl mit Bedacht angefasst werden. Der Algorithmus ist im Grunde mit der Suchmaschine selbst gleichzusetzen. Nahezu ausschließlich über ihn und seine Qualität definiert sich die Qualität der Suchergebnisse. Damit ist der Algorithmus das entscheidende Kriterium für die Zufriedenheit der Nutzer. Er ist daher die treibende Kraft für Innovationen in der Online-Suche. Insofern könnte sich eine unbedachte und/oder vollständige Offenlegung der Suchalgorithmen als echter Hemmschuh erweisen und sich nachteilig auf die Innovationskraft einer ganzen Branche auswirken.

Eine (teilweise) Offenlegung sollte daher an Voraussetzungen geknüpft werden und beispielsweise voraussetzen, dass der potentiell Benachteiligte zuvor hinreichend darlegt, von einer unbilligen Behinderung oder unterschiedlichen Behandlung ohne sachlich gerechtfertigten Grund betroffen zu sein. Hierzu kann man sich bestehender oder zu schaffender zentraler Kommissionen, beispielsweise der KEK oder einer zu bildenden Kommission zur Vielfaltsicherung im Bereich der Suchmaschinen (KVS) als weitere zentrale Organisation bedienen.

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[1] http://www.mediadb.eu/fileadmin/bilder/reports/Schneider__Norbert_2006-Globalisierung_und_Medienregulierung._Fakten_und_Perspektiven__Global_Business_Symposium_on_Media_and_Business__Cambridge_UK..pdf.

[2] Vgl. Stark/Magin/Jürgens, Navigieren im Netz – Befunde einer qualitativen und quantitativen Nutzerbefragung, in: Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.), Die Googleisierung der Informationssuche. Suchmaschinen zwischen Nutzung und Regulierung, 2014,  20 (21).

[3] Stark/Magin/Jürgens, Navigieren im Netz – Befunde einer qualitativen und quantitativen Nutzerbefragung, in: Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.), Die Googleisierung der Informationssuche. Suchmaschinen zwischen Nutzung und Regulierung, 2014, 20 (54).

[4] Vgl. zum Vorstehenden Dörr/Natt, Suchmaschinen und Meinungsvielfalt – Ein Beitrag zum Einfluss von Suchmaschinen auf die demokratische Willensbildung, ZUM 2014, 829 (835 f.).

[5] Google Pressemitteilung vom 06.08.2014, HTTPS as a ranking signal, online unter http://googlewebmastercentral.blogspot.de/2014/08/https-as-ranking-signal.html.

[6] Dörr/Natt, Suchmaschinen und Meinungsvielfalt – Ein Beitrag zum Einfluss von Suchmaschinen auf die demokratische Willensbildung, ZUM 2014, 829 (836 f.).

[7] BGH, ZUM 2013, 550 ff.

[8] EuGH, Urteil vom 13.05.2014, C-131/12, Celex-Nr. 62012CJ0131.

[9] Dörr/Natt, Suchmaschinen und Meinungsvielfalt – Ein Beitrag zum Einfluss von Suchmaschinen auf die demokratische Willensbildung, ZUM 2014, 829 (837 f.).

[10] Stark/Magin/Jürgens, Navigieren im Netz – Befunde einer qualitativen und quantitativen Nutzerbefragung, in: Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.), Die Googleisierung der Informationssuche. Suchmaschinen zwischen Nutzung und Regulierung, 2014, 20 (34); Dörr/Schuster, Suchmaschinen im Spannungsfeld zwischen Nutzung und Regulierung – Rechtliche Bestandsaufnahme und Grundstrukturen einer Neuregelung, in: Stark/Dörr/Aufenanger (Hrsg.), Die Googleisierung der Informationssuche. Suchmaschinen zwischen Nutzung und Regulierung, 2014, 262 (298).